Benachteiligte „spielen nicht mehr mit“
Primatenforscher, also Forscher, die sich mit dem Verhalten von Menschenaffen und Menschen beschäftigen, gehen schon lange davon aus, dass wir das eigene Verhalten erforschen können, indem wir Hinweise beachten, die wir aus der Beobachtung von Menschenaffen gewonnen haben. Denn diese zeigen ihre Gefühle offener – übrigens genau wie Kinder – ohne sie, wie es erwachsene Menschen oft tun, zu tarnen. Und sie stehen uns näher, als uns manchmal lieb ist. Um diese Tatsache zu betonen, hat uns Desmond Morris den „nackten Affen“ genannt, denn der auf den ersten Blick auffallende Unterschied zwischen uns und den Menschenaffen ist unsere Unbehaartheit. Und so, wie wir eine Unke mit rotem Bauch „Rotbauchunke“ nenne, sollten wir den Menschen, biologisch betrachtet, als „Nacktaffe“ bezeichnen.
Wer sich ungerecht behandelt fühlt, steigt aus und/oder wird aggressiv
Eine interessante und erhellende Versuchsreihe wurde schon vor einigen Jahren mit Schimpansen durchgeführt. Dazu wurden zwei Affen die gleiche, einfache Aufgabe gestellt. Welche Aufgabe das war, ist unwesentlich, das Ergebnis war immer gleich. Zur Belohnung, wenn sie die Aufgabe gelöst hatten, bekamen die Affen ein Stückchen Gurke. Das ist für sie eine kleine, aber angesichts der einfachen Aufgabe angemessene Belohnung. Dann bekam einer der Affen für die gleiche Lösung der Aufgabe ein Stück einer süßen Frucht, während der andere weiterhin ein Gurkenstück bekam. Das machte dieser einige Male mit. Wurde dann allerdings wütend, bewarf die Forscher und den anderen Affen mit Schmutz und weigerte sich, die Aufgabe weiter zu erfüllen. Obwohl er ja weiterhin die selbe Belohnung bekam wie vorher, fühlte er sich nun ungerecht behandelt.
Klar kamen dann die Argumente: „Bei Affen mag das stimmen, aber Menschen sind moralisch hochstehender, die handeln anders!“ Und so hat man diesen Versuch später auch mit anderen Affenarten durchgeführt, mit Menschenkindern und schließlich auch mit erwachsenen Menschen, immer war das Ergebnis gleich: der Benachteiligte „spielte nicht mehr mit“. Wenn man einen ungerecht behandelt, steigt der aus und/oder wird aggressiv.
Warum erzähle ich das hier?
Erinnern Sie sich an die Vorkommnisse am letzten Silvester, als Jugendliche Rettungskräfte angriffen? Es herrschte allgemeines Unverständnis über diese Randalierer, obwohl das Verhalten der jungen Männer im Licht des oben geschilderten Versuchs leicht zu verstehen ist.
Diese jungen Männer kamen aus sogenannten „sozialen Brennpunkten“, hatten also alle einen niederen sozialen Rang. Sie hatten gelernt, dass sie sich erheblich mehr anstrengen müssen, um in der sozialen Leiter aufzusteigen. Sie hatten gelernt, dass sie als Belohnung Gurken bekommen, während andere mit anderem sozialen Hintergrund süße Früchte erhalten. Dabei ist es völlig gleichgültig, ob das so objektiv stimmt, wenn eine Gruppe von Menschen den Eindruck hat, dass sie benachteiligt sind, werden sie sich entweder aus dem sozialen Geschehen ausklinken oder aggressiv werden.
Lassen sie sich auf keinen Fall einreden, dass diese aggressiven jungen Männer affenähnlich seien und deshalb nichts mit uns zu tun hätten und minderwertig seien. Alle Primaten, einschließlich der Menschen, verhalten sich so. Wenn Menschen sich benachteiligt fühlen, werden sie irgendwann zu aggressiven Maßnahmen greifen, werden bei Demonstrationen mitmachen, vielleicht sogar andere Menschen beschimpfen, bedrohen und im schlimmsten Fall aggressive Parteien wählen.
Auch im Berufsleben ist ähnliches zu beobachten. Seitdem unsere Gesellschaft immer undurchlässiger geworden ist, seitdem ein Aufstieg für weniger Privilegierte immer unwahrscheinlicher wird und seitdem die Belohnung für die „Eliten“ immer höher wird, ohne dass deren Leistungen adäquat gestiegen sind. Seitdem also „normale Leute“ ein Stückchen Gurke bekommen, während andere aufgrund ihrer sozialen Herkunft Früchte sozusagen lastwagenweise herangekarrt bekommen, steigt die Unzufriedenheit. Warum haben über 60 % der Beschäftigten innerlich gekündigt? Warum häufen sich Drückebergerei und heimliche Sabotage? Und warum sind so viele Leute der Meinung, wir hätten keine Demokratie mehr? All das sind unbewusste Reaktionen auf eine tatsächliche oder gefühlte ungleiche Behandlung. Das hat nichts mit „Sozialneid“ zu tun, wie es von sozial Begünstigten oft gesagt wird. Das ist die Folge eines verletzten Gerechtigkeitssinns. Und wie wir aus der Novelle „Michael Kohlhaas“ wissen, ist dieser hochgefährlich – für alle Beteiligten. Und wie wir aus dieser Kleist‘schen Novelle lernen können, ist Gewalt, wie zum Beispiel Angriffe auf Rettungskräfte, wenn auch erklärbar, so doch unverzeihlich und kann nicht ungesühnt bleiben. Die Antwort des Rechtsstaats muss hier klar und konsequent sein. Aber sie kann nicht die einzige Antwort sein.
Der zweite Teil der Antwort
Was sollte also der zweite Teil der Antwort sein? Wir sind aufgefordert, wieder zu einer sozialen Gerechtigkeit zu werdenen, wie sie zu Zeiten der Sozialen Marktwirtschaft bis in die 70’er Jahre des letzten Jahrhunderts gang und gäbe war. Wie sich die Älteren unter uns vielleicht erinnern, wurde eine höhere Entlohnung von Vorgesetzten auch damals akzeptiert. Diese haben sich aber nicht angemaßt, das 50 bis 100-fache eines normalen Angestellten zu verdienen. Natürlich gab es auch da bereits unverdient Belohnte, siehe die Familie Quandt als Erben, aber dies war erheblich seltener.
Wenn wir uns andere Staaten anschauen, in denen die soziale Schere weniger weit auseinanderklafft, können wir feststellen, dass das soziale Miteinander besser ist und die wirtschaftlichen Erfolge dieser Staaten für alle höher. Denn es spielt keine Rolle, dass die Gurkenstückchen seit den 70‘ern ein bisschen größer geworden sind. Wenn die Lastwagen gleichzeitig vor Früchten überquellen, werden wir unsere Gesellschaft nicht heilen. Und wie gesagt, das hat nichts mit Neid zu tun – ich gönne jedem einen seiner Leistung angemessenen Lohn – ich fordere soziale Gerechtigkeit.
Autor: Roland Scherer